Ebola? War da was?
In den Augen von Margaret Chan scheinbar nicht. Die Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation ließ es sich nicht nehmen, anlässlich der sechsten Weltkonferenz der WHO-Tobacco Free Initiative zur „Weiterentwicklung“ der FCTC (Framework Convention on Tobacco Control), also der Rahmenvereinbarung zur Eindämmung des Tabakgebrauchs, nach Moskau zu reisen, dort auch mit Wladimir Putin vor der Kamera zu posieren und sogar eine Art Bückling vor dem Mann zu machen, der vielen als der gefährlichste Mann der Welt gilt.
Dass der russische Präsident Frau Dr. Chan bei dieser Gelegenheit – vermutlich stark geschönte – Zahlen über den sinkenden Bevölkerungsanteil der Raucher in Russland präsentierte – nach seiner Darstellung sei der Anteil der regelmäßigen Raucher, der 2010 noch bei 40 Prozent der Bevölkerung gelegen sei, im vergangenen Jahr um 16 oder 17 Prozent gesunken –, ist dabei allenfalls eine Fußnote wert. Solche Bilder stehen symbolisch und symptomatisch für den Tunnelblick der WHO, die sich bei ihrem Kampf gegen den Tabak für keinen noch so zweifelhaften Bündnispartner zu schade zu sein scheint. Mit den USA und Kanada hingegen haben zwei wichtige und im Kampf gegen die Raucher weit „fortgeschrittene“ Akteure die Teilnahme an der Konferenz wegen der Bedenken gegen diesen Gastgeber abgesagt und damit andere Prioritäten gesetzt: Der Kampf gegen den Tabak, den beide Länder ja bitterernst nehmen, gilt ihnen im Vergleich zur veränderten weltpolitischen Lage durch den Ukraine-Krieg vernünftigerweise als nachrangig.
Um noch eine weitere Fußnote zu Russland zu ergänzen: In einem früheren Blogbeitrag hatte ich darauf hingewiesen, dass in den USA, Deutschland und Russland trotz sehr unterschiedlichen Entwicklungen beim Bevölkerungsanteil der Raucher die Entwicklung bei den Lungenkrebserkrankungen verblüffenderweise ungefähr denselben Verlauf genommen hat, mit einem Höhepunkt Anfang der neunziger Jahre, gefolgt von einem stetigen Rückgang … und zwar auch in Russland, wo der Anteil der Raucher keineswegs zurückgegangen war.
Dies spiegelt aber nicht etwa auch die Entwicklung bei anderen Krebsarten wider. Tatsächlich haben vor allem Männer in Russland ein weit höheres Risiko, an Krebs zu sterben, als in Europa oder den USA. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch, dass die durchschnittliche Lebenserwartung russischer Männer bestürzend niedrig liegt und mit der viel positiveren Entwicklung bei den Frauen in Russland nicht mithalten konnte: Jeder vierte Todesfall bei russischen Männern trifft eine Person, die jünger als 55 Jahre alt ist. Das wiederum bedeutet, dass tödlich verlaufende Krebserkrankungen bei russischen Männern durchschnittlich auch in viel jüngeren Jahren auftreten als in Europa oder den USA. Es wird ja gerne darauf hingewiesen, dass Rauchen bei vielen Krebsarten eine bedeutende Rolle spiele. Wenn dies aber in Russland der Grund für die Krebshäufigkeit wäre, was vielleicht nun mancher einwenden möchte, warum sollte dann eigentlich ausgerechnet beim Lungenkrebs die Erkrankungshäufigkeit zurückgehen?
Ein Zusammenhang mit Tabakkonsum ist bei der Entwicklung der Lebenserwartung in Russland auch bei WHO-freundlichster Betrachtung nicht zu erkennen. Tatsächlich deutet die in den Jahren 1993 bis 1995 sowie später noch einmal zwischen 2000 bis 2006 im Vergleich zu den unmittelbaren Vorjahren sichtbar gesunkene Lebenserwartung – vor allem bei Männern – auf einen Zusammenhang mit militärischen Einsätzen hin: Beide Zeiträume umfassen nämlich die russischen Kriege in Tschetschenien. Vor, zwischen und nach den Tschetschenien-Einsätzen lag die Lebenserwartung von Männern höher als während dieser Kriege. Das Ausmaß des verdeckten militärischen Engagements Russlands in der Ukraine im Jahre 2014 wird man also wahrscheinlich ebenfalls an der Entwicklung der Lebenserwartung russischer Männer ablesen können: Falls sie weiter steigt, spricht das gegen russische Einsätze größeren Umfangs. Sollte sie aber sinken, darf man den Gerüchten wohl Glauben schenken, nach denen in den letzten Monaten mehrere Tausend überwiegend noch sehr junge russische Soldaten im Nachbarland zu Tode gekommen seien.
Russischen Statistikern und Medizinern ist bestimmt völlig klar, dass der Kampf gegen das Rauchen keinen nennenswerten Einfluss auf die Lebenserwartung russischer Männer haben wird. Aber was der WHO recht ist, kann ja einem Wladimir Putin nur billig sein: Auch in Russland gibt es ein politisches Interesse daran, durch entsprechenden Medienrummel von den wirklichen Erkrankungs- und Todesfallrisiken, die nicht „individuellem Fehlverhalten“ wie dem Rauchen und dem Alkohol entspringen, nach Kräften abzulenken.
Zurück zu der WHO-Konferenz in Moskau, die noch aus anderen Gründen erwähnenswert ist. In das Kreuzfeuer der Kritik geriet die WHO nämlich nicht nur wegen der exorbitanten Kosten dieser Veranstaltung – 1,6 Millionen Dollar in Zeiten, in denen die Weltgesundheitsorganisation ständig über ihren Geldmangel klagt, das Budget kürzt und eigentlich jeder verfügbare Dollar in die Ebola-Gebiete fließen müsste –, bei der es sich die Delegierten aus 175 Ländern bei Kaviar und Champagner wohl sein ließen und ihre Nächte in den besten Luxushotels von Moskau verbrachten, sondern auch, weil kurzfristig entschieden wurde, dass sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden werde: Die Presse wurde nicht zugelassen. Kritische Vergleiche wurden insbesondere auch mit dem eher nachlässigen Umgang der Weltgesundheitsorganisation mit der Ebola-Epidemie gezogen. Die Medien zitierten Mariano Lugli, Direktor für Internationale Einsätze der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“, der noch im Oktober nur feststellen konnte, dass er überhaupt noch keinen WHO-Repräsentanten bei den zahlreichen Sitzungen in den Krisenländern gesehen habe. Die Nerven der Leiterin der Hilfsorganisation, Joanne Liu, liegen offenbar inzwischen vollkommen blank, denn sie wirft der WHO kurzerhand Versagen vor.
Betrachtet man die aktuellen Erkrankungs- und Todesfallzahlen, wundert man sich nicht mehr über solche Reaktionen: 10.141 Erkrankungs- und 4922 Todesfälle (Stand: 25.10.). Zur Erinnerung und zum Vergleich hier die Zahlen vom 7. September aus meinem letzten Blogbeitrag: 2.639 bestätigte Erkrankungsfälle und 1.386 Todesfälle. Beide Werte haben sich innerhalb von ca. sieben Wochen also ungefähr vervierfacht. Dass die tägliche Zunahme der Neuerkrankungsfälle Ende Oktober nicht mehr, wie Anfang September, bei 150 bis 200, sondern „nur“ noch knapp unter 100 Fällen lag, ist angesichts der in Europa (Spanien) und den USA aufgetretenen Neuerkrankungen bei Pflegepersonal – trotz bester Schutzmaßnahmen – nur ein schwacher Trost, denn offenbar liegt das Infektionsrisiko höher als erwartet.
Dass die WHO sich nicht alleine aus Pflicht- und freiwilligen Zahlungen ihrer Mitgliedsländer, sondern in stetig wachsendem Umfang auch über Sponsoring durch allerlei Organisationen und Unternehmen – darunter auch solche der Pharmaindustrie – finanziert, ist ein offenes Geheimnis. Weniger bekannt ist, dass die Sponsoren anscheinend auch Einfluss darauf haben, wofür die WHO die von ihnen „gestifteten“ Gelder verwendet. Das heißt: Wenn die Bill-and-Melinda-Gates-Stiftung in ihrer unendlichen Güte einige Millionen Dollar für den Kampf gegen das Rauchen zur Verfügung stellt – und die Gates-Foundation ist einer der großen Sponsoren von WHO-Programmen, jedenfalls von solchen, die ihr in den Kram passen –, ist die WHO nicht berechtigt, mit diesem Geld einen unerwarteten Ausbruch einer vielleicht die ganze Welt akut bedrohenden Seuche zu bekämpfen, egal, wie dringend diese Bekämpfung sein mag und wie teuer es auch die Heimatländer der edlen Spender zu stehen kommen mag, falls sie unterbleibt. Sie muss warten, bis der Sponsor bereit ist, auch hierfür zweckgebunden Geld zur Verfügung zu stellen – was im Falle der Gates-Stiftung und Ebola im September dann doch noch geschehen ist. Nur war im September 2014 das Kind längst in den Brunnen gefallen.
Bereits im Jahre 2010 geriet die Weltgesundheitsorganisation in massive Kritik, weil sie sich auch nach der Erdbebenkatastrophe in Haiti dem darauf folgenden Choleraausbruch nicht im Entferntesten gewachsen zeigte. Zu jener Zeit wurde die Gates-Foundation ihr noch als leuchtendes Beispiel, wie man es besser machen könne, gegenübergestellt. Wie sich im Falle von Ebola zeigt, wäre es aber nicht empfehlenswert, sein Schicksal ausgerechnet einer privaten Stiftung anzuvertrauen, die ihre Gelder nach eigenem Gutdünken und begrenztem Urteilsvermögen verteilt.
Die WHO Tobacco Free Initiative ficht das im Moment, wie man sieht, noch nicht so richtig an. Sichtet man die Dokumentation ihrer einwöchigen und opulenten Moskauer FCTC-Konferenz, die nach eigener Aussage der WHO besonders erfolgreich gewesen sei, ist augenfällig, dass ihre Akteure nicht einmal im Traum daran dächten, Ebola für wichtiger als den Kampf gegen den Tabak zu halten. Sogar aus einem der von Ebola hauptbetroffenen Länder, nämlich Guinea-Bissau, wurde ein Delegierter nach Moskau geschickt – als hätte dieses Land keine anderen Sorgen! Aber dies ist auch die Folge des prestigeträchtigen Status solcher Posten innerhalb der regionalen WHO-Bürokratie insbesondere in ärmeren Ländern. Deren Inhaber müsste ja verrückt sein, eine solche Gelegenheit, es sich einmal richtig gut gehen zu lassen, ungenutzt verstreichen zu lassen! Ja, man wundert sich geradezu, dass der Ebolaausbruch von der WHO nicht ebenfalls zu den „hinterhältigen“ Methoden der Tabakindustrie gezählt wird, deren Margaret Chan die Tabakindustrie in ihrer Eröffnungsrede bezichtigte, die angeblich „immer härter und über jeden möglichen Kanal“ zurückschlage, um die WHO am Erfolg ihres Kampfes zu hindern.
Man wünscht sich ja manchmal fast schon, die Tabakindustrie wirklich einmal ernsthaft zurückschlagen zu sehen, nur damit der Unterschied zu deren übervorsichtigem Vorgehen auch für den außenstehenden Beobachter erkennbar wäre. Tatsache ist, dass die WHO seitens der Tabakindustrie wenig Widerstand erfährt. Das ist auch kein Wunder, denn ihr wurden in den letzten anderthalb Jahrzehnten die meisten Möglichkeiten zur Gegenwehr immer weiter eingeschränkt bzw. gänzlich unterbunden. Wer gegen einen gefesselten Gegner kämpfen darf, wie die WHO im Fall der Tabakindustrie, der hat ein so leichtes Spiel, dass man peinlich berührt ist von der theatralischen Märtyrerpose, in die sie sich dabei unweigerlich dennoch wirft.
Einem Gegner wie Ebola ist auf diese Weise aber natürlich nicht beizukommen. Vielleicht ist das ja der Grund, warum es seitens der WHO nicht mit dem nötigen Ernst versucht wird. Stattdessen werden Beschlüsse über die Regulierung von E-Zigaretten – einem Produkt, zu dem der Nachweis auch nur eines einzigen Todesfalls bis heute immer noch aussteht – als Sieg gegen die Tabakindustrie gefeiert, obwohl die E-Zigarette nicht einmal eine Entwicklung der Tabakindustrie ist und bis heute mehrheitlich von Unternehmen aus ganz anderen Bereichen hergestellt wird. Erst in allerjüngster Zeit bemüht sich die in ihrem Kerngeschäft immer weiter in die Enge getriebene Tabakindustrie, auch im Markt für E-Zigaretten Fuß zu fassen. Der gerne strapazierte Vergleich eines angeblichen Kampfs von David (WHO) gegen Goliath (Tabakindustrie) lässt sich beim Kampf der weltumspannenden WHO mit ihrem wirkungsvollen Instrument völkerrechtlich verbindlicher Verträge gegen die bislang überwiegend kleinen Hersteller und Händler von E-Zigaretten mit weitaus mehr Berechtigung genau umgekehrt ziehen.
Als ironische Fußnote ist außerdem noch zu ergänzen, dass ein Medikament gegen Ebola, das man gerade fieberhaft zu entwickeln versucht und mit dem man bereits erste hoffnungsvolle Erfolge hatte, aus Tabakpflanzen gewonnen wird. Da fällt einem unwillkürlich ein, wie sehr doch Ärzte und Pflegepersonal für die an Ebola Erkrankten in ihrer ein bisschen unheimlich wirkenden Schutzkleidung an die Pestärzte früherer Jahrhunderte erinnern. Zu deren Ausstattung gehörte allerdings neben der bekannten Schnabelmaske auch eine Tabakspfeife.
Um Ebola ist es inzwischen im Blätterwald wieder „beruhigend“ still geworden. Aufgescheucht würde die WHO allerdings, wenn einer der WHO-Funktionäre die Ansteckung ins Genfer Hauptquartier einschleppen würde. Die WHO-Funktionäre sind äusserst reisefreudig und organisieren zu diesem Zweck unzählige internationale Meetings. Vermutlich steckt aber die Angst so tief, dass mittlerweile einige Länder zur No-Go-Zone erklärt wurden.
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