Das Brexit-Menetekel

Was ein Menetekel ist, darf ich bestimmt als bekannt voraussetzen. Trotzdem, eine kurze Erklärung vorab: Das Menetekel, das ist eine Warnung nach einer Missetat, die auf so unheimliche Art geschieht, dass es einem dabei kalt den Rücken herunterläuft. Ursprung der sprichwörtlichen Redensart vom Menetekel war die biblische Geschichte von König Belsazar in Babylon, der im Übermut während eines Fests geraubte Gefäße aus dem Jerusalemer Tempel entweihte. Darauf, so der Chronist im Alten Testament, erschien eine Schrift an der Wand des Festsaals, geschrieben von einer unsichtbaren Hand. Niemand konnte diese Schrift lesen, bis der geängstigte König den jüdischen Propheten Daniel zu Rate zog.

Um den biblischen Daniel selbst weitersprechen zu lassen:

So aber lautet die Schrift, die dort geschrieben steht: Mene mene tekel u-parsin. Und sie bedeutet dies: Mene, das ist, Gott hat dein Königtum gezählt und beendet. Tekel, das ist, man hat dich auf der Waage gewogen und zu leicht befunden. Peres, das ist, dein Reich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben.

Gewogen und für zu leicht befunden, sein Reich wird zerfallen. Etwas ganz Ähnliches ist jetzt auch der Regierung Cameron in Großbritannien passiert, die den Wählern während des Wahlkampfs 2015 ein Referendum über einen Austritt aus der Europäischen Union versprochen hatte, in der festen Überzeugung, dies werde niemals eine Mehrheit finden. Aber das erwies sich als Irrtum, und nun steht das Vereinigte Königreich vor einem Abgrund.

Die Folgen dieses politischen Erdbebens sind im Moment noch kaum abschätzbar. Illusionen über seine Ursachen sollte man sich allerdings keine machen. Es war nicht der „Sieg des Populismus“, wie es die Medien vielfach darstellen, gestützt auf niedrige Instinkte der angesprochenen und durch Lügenkampagnen verführten tumb-primitiven Wählerschichten, die wachgerufen wurden von Ereignissen wie der Flüchtlingskrise, die von außen kamen und von der etablierten Politik nicht zu verhindern waren. Der Sieg des Populismus kam nämlich erst, nachdem die etablierte Politik ihm durch eine fortwährende Missachtung großer Teile der britischen Bevölkerung jahrelang den Boden bereitet hatte. Es brauchte nur noch irgendeinen Auslöser als Funken, um alles, was sich über viele Jahre hinweg aufgestaut hatte, zur Detonation zu bringen.

In Wirklichkeit spielte die EU nach Ansicht vieler Beobachter nämlich nur eine Nebenrolle bei diesem Referendum. Für den Austritt gestimmt hatten vor allem leicht zu identifizierende Bevölkerungsschichten: Alte, Arme, Arbeitslose und Ausgegrenzte. Das nämlich lässt sich an den Wahlergebnissen nach Altersstruktur, nach Beschäftigungsform, nach Einkommen, aber auch nach Region ableiten: Am deutlichsten für den Austritt waren die Regionen, in denen der industrielle Niedergang der Thatcher-Ära eine ähnlich gedrückte Grundstimmung erzeugt hat, wie wir sie auch von Deutschlands Osten kennen – in dem Teil Deutschlands, in dem die meisten Flüchtlingsheime gebrannt haben und wo Pegida und AfD den größten Zulauf haben.

In beiden Ländern wurde in den letzten Jahren immer wieder versucht, die Unzufriedenen davon zu überzeugen, dass sie falsch lägen, und zwar vorwiegend mit dem Mittel des Spotts, der Verächtlichmachung und mit Drohungen. Da dieses Mittel nicht die geringste Wirkung gezeigt, sondern im Gegenteil eher noch mehr Leute auf die Straße bzw. an die Wahlurnen getrieben hat, um ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen, wäre es spätestens jetzt notwendig, einzusehen, dass es sich um ein untaugliches Mittel handelt. Außerdem sollte darüber nachgedacht werden, was eigentlich an ihm falsch ist.

In Großbritannien scheinen die Ersten unter dem Eindruck des Brexit-Schocks nun endlich soweit zu sein, sich mit solchen Fragen zu befassen, und es gibt bereits erste Antworten:

Die für den EU-Austritt stimmende Mehrheit der Brexit-Wähler hatte keine Angst vor den möglichen unheilvollen Folgen des Austritts, mit denen Cameron und sein Lager  fortwährend gedroht hatten, weil sie glaubten, davor würden sich die EU-Hasser genügend fürchten, um vor dem Risiko zurückzuschrecken. Sie irrten sich, und zwar deshalb, weil diese Wähler ihre Gegenwart als bedrückend empfinden und ihre Zukunft pessimistisch sehen. Sie spüren nichts von Vorteilen, die sie von der Europäischen Union aus Camerons Sicht haben, und sie erhoffen sich von ihr nichts. Warum aber sollte der Wohlstand anderer Bevölkerungsschichten oder gar der Londoner City dann aus ihrer Sicht ein Argument darstellen? Populisten müssen diese Leute in Wirklichkeit nicht von irgendetwas überzeugen. Alleine schon dafür, dass sie ihnen ein tröstliches Märchen erzählen, sind diese Leute ihnen dankbar. Denn wer weiß, was sie tröstlich finden, der hat auch verstanden, warum sie unzufrieden sind. Das ist mehr, als die Gegenseite beim Brexit-Votum, die Regierung, ihnen jemals geboten hat.

Die 52 Prozent Brexit-Wähler sind ein Menetekel für ganz Europa, und aus diesem Anlass möchte ich mich selbst zitieren. Schon vor vier Jahren schrieb ich in meinem Buch „Passivrauchen – Götterdämmerung der Wissenschaft“ dies hier:

„Social Engineering“, die Veränderung gesellschaftlicher Gewohnheiten durch steuernde gesetzliche Maßnahmen, ist ein gefährliches Spielzeug, und es lässt sich erahnen, dass es sich dazu noch in den Händen von ahnungslosen Zauberlehrlingen befindet, die nicht die leiseste Vorstellung von dem haben, was sie da tun. Nicht einmal, wenn Sie am Computer sitzen, passiert immer x, wenn Sie Button y drücken. Manchmal bekommen Sie stattdessen auch eine Fehlermeldung, und in den meisten Fällen haben Sie keine Ahnung, aus welchem Grund. Normalerweise lässt sich der Computer nach einem Neustart zwar wieder bedienen, aber wer solche Warnungen häufig bekommt und zu lange nicht beachtet, braucht in der Regel eher über kurz als über lang einen neuen Computer.

Die vielen kleinen Fehlermeldungen, die durch Rechtschreibreform, Glühbirnenverbot, Dosenpfand und Rauchverbot sowie zahlreiche andere mit mehr oder weniger sanfter Gewalt steuernde Maßnahmen erzeugt werden, sind in der Summe nicht harmlos. Wir durchsteuern gerade schwierige Zeiten mit hitzigen Bürgerdebatten, von den europa- und weltweiten Folgen der Finanzkrise über die ausufernde Staatsverschuldung bis zur demographischen Entwicklung, von den politischen Erschütterungen im arabischen Raum bis zur Frage, ob und wenn ja was gegen den Klimawandel unternommen werden kann oder muss. Dass die Politik auf die damit verbundenen besorgten Fragen statt plausiblen Antworten meist nur leere Worthülsen zu bieten hat, erzeugt dasselbe Gefühl der Hilflosigkeit wie im kleineren Rahmen die aufdringliche Vorschriftenhuberei, die sich im Privatleben ihrer Bürger immer breiter macht. Die Hilflosigkeit entsteht aus der Ahnung, dass die Mittel der Politik nie im Leben ausreichen werden, um die großen Probleme zu lösen, aus Zorn über unerbetene und sinnlos erscheinende Reglementierungen und aufgezwungene Maßnahmen, aber auch aus dem Gefühl der persönlichen Unzulänglichkeit, das entsteht, wenn die eigene Lebensgestaltung scheinbar eine ist, die einen als Versager entlarvt. Glaubt man wie im ersten Fall, es gäbe gar keine Lösung, hat es keinen Sinn, sich zu wehren. Im letzteren Fall fühlt man sich dazu nicht berechtigt. Aber all das gärt dennoch in den Menschen. Bietet sich eine Gelegenheit der zweiten Art, das zeigte Stuttgart 21, entlädt sich alles dann, oft völlig unerwartet, eben an dieser Stelle.

Diese Entladung findet aber nicht nur auf der Straße, sondern auch an der Wahlurne statt. Es ist vermutlich reines Glück, dass sich in Deutschland, anders als in der Mehrzahl der anderen EU-Länder, noch keine rechtspopulistische Partei bilden konnte, die in der Lage war, die mit Händen zu greifende allgemeine Unzufriedenheit für ihre Ziele zu nutzen. Das Gefühl, es müsse sich in der Politik etwas Grundlegendes verändern, ist dennoch auch in Deutschland in allen Altersgruppen und Schichten vorhanden. Dieses Gefühl fand bei Wahlen bislang nur in starken Wählerbewegungen hin zur jeweiligen Opposition ihren Ausdruck, und zwar scheinbar ganz unabhängig davon, wer gerade in der Opposition war: bei der Bundestagswahl 2009 die FDP, in Nordrhein-Westfalen 2010 die SPD, in Hamburg 2011 die CDU, in Baden-Württemberg nun die Grünen. Die Wähler setzen ihre Hoffnungen vermutlich aber nicht in die Qualitäten der neu an die Macht gebrachten Partei, sondern in das Wunder, das möglicherweise geschehen könnte, wenn sie statt des gewohnten Übels dasjenige wählen, das man in letzter Zeit nicht bei der Regierungsarbeit miterleben musste. Aus „Hosianna“ wird dann aber innerhalb weniger Monate „Kreuziget ihn“, wie bei der FDP, die nach aktuellen Umfragewerten von einem Rekordergebnis 2009 auf einen Wert abgestürzt ist, mit dem sie um ihren Wiedereinzug in den Bundestag zittern müsste.

In zahlreichen anderen EU-Ländern waren die Bewegungen bei Wahlen in den letzten Monaten ähnlich spektakulär, aber sie erwiesen sich, anders als bei uns, in etlichen Fällen nicht etwa für die etablierten Oppositionsparteien am vorteilhaftesten, sondern spülten – beispielsweise in Finnland oder Schottland – nationalistische bzw. separatistische Parteien in eine zuvor nicht erwartete wichtige Position. Es ist nicht auszuschließen, dass bis zur nächsten Bundestagswahl in Deutschland doch noch eine Partei entsteht, die ebenso in das momentane politische Vakuum vorstößt – und was diese Partei für Inhalte in ihrem Programm hat, ist dabei vermutlich ganz unwichtig. 

Es ist mir ganz und gar keine Genugtuung, mit meiner Prophezeiung recht behalten zu haben. Ich wünschte aufrichtig, es wäre nicht so gekommen, und ich hoffe, dass das, was in Großbritannien geschehen ist, nun wenigstens richtig analysiert wird, um zu verhindern, dass es in Deutschland genauso weit kommt.

Auch ohne Dosenpfand oder Rechtschreibreform sind die Briten in vielen in ihr Privatleben eingreifenden Bereichen Objekte umfassender Regulierungen geworden und werden dabei fragwürdigen Konditionierungsexperimenten unterzogen. Damit sollen die unerwünschten Lebensstile großer Teile der Bevölkerung verändert und dem angepasst werden, was politisch für opportun gehalten wird. Das ist übrigens weder ein Geheimnis, noch findet die britische Regierung daran etwas verwerflich. Das Ganze firmiert unter dem Schlagwort „Nudging“, zu Deutsch: schubsen, anstoßen. Auch in Deutschland wird dieses Mittel, die Menschen dazu zu bringen, durch Beeinflussung zu tun, was sie von alleine nicht tun wollen, als Instrument politischer Steuerung lebhaft diskutiert.

Das menschliche Verhalten zu beeinflussen, ist nichts Neues für die Regierung, die häufig Mittel wie Gesetzgebung, Regulierung oder Besteuerung verwendet, um politisch erwünschte Ergebnisse zu erreichen. Aber viele der größten politischen Herausforderungen, denen wir heute gegenüberstehen – wie die Zunahme der Zahl von Menschen mit chronischen Gesundheitseinschränkungen – können nur gelöst werden, wenn wir Erfolg dabei haben, die Leute dazu zu bringen, ihr Verhalten, ihren Lebensstil oder ihre bestehenden Gewohnheiten zu ändern. Glücklicherweise wurde im letzten Jahrzehnt immer besser verstanden, was Verhalten beeinflusst, und das weist den Weg zu neuen Herangehensweisen und neuen Lösungen.

So die Einschätzung der britischen Experten. Aber irgendwie funktioniert das mit dem Nudging offenbar doch nicht ganz so wie gedacht. Denn wäre es wirklich so einfach, das Verhalten der Menschen in eine gewünschte Richtung zu lenken, hätte es der britischen Regierung ja leichtfallen müssen, den Brexit durch Einflussnahme dieser Art zu verhindern. Stattdessen fällt aber etwas ganz anderes auf: In Großbritannien haben die Liberaldemokraten in den letzten Jahren genau dieselbe Achterbahnfahrt erlebt wie bei uns die FDP: Erst gelangten sie bei den Unterhauswahlen 2010  völlig unerwartet zu solcher Stärke, dass es im Heimatland des Mehrheitswahlrechts die erste Koalitionsregierung seit Menschengedenken gab, aber bei der darauffolgenden Wahl 2015  wurden sie mit Schimpf und Schande wieder aus ihren Parlamentssitzen gefegt (ihnen blieben nur 8 von zuvor 57 Parlamentssitzen), während die EU-kritische UKIP, bis dahin eine unbedeutende Splitterpartei, deren Vorsitzendem Nigel Farage viele Jahre lang vor allem ein gewisser Kuriositätswert zugemessen wurde, zwar nur einen einzigen Parlamentssitz errang, aber mit einem bis dahin unerreichten Stimmenanteil von 12,6 Prozent dennoch einen Achtungserfolg feiern konnte. Wahrscheinlich wäre Farages UKIP sogar noch erfolgreicher gewesen, wenn Cameron nicht mit dem Referendum, das ihn jetzt sein Amt gekostet hat, einen Teil der EU-Feinde in sein Lager gelockt hätte.

Am Rande darf ich außerdem bemerken, dass Farage berüchtigt dafür ist, sich gerne mit einer Zigarette in der einen und einer Pint in der anderen Hand fotografieren zu lassen. Zu den Wahlversprechen seiner Partei gehört unter anderem auch die Abschaffung des Rauchverbots in der Gastronomie.

Ausgerechnet in einem der Länder, in denen die Bekämpfung des Tabaks durch die Regierung besonders weit vorgeprescht ist, kursierten während des Wahlkampfs vor der Abstimmung um den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union nicht nur Fotos, die Premierminister Cameron beim Rauchen zeigen sollen, sondern auch seine Frau Samantha hat laut Medienberichten mit dem Rauchen wieder angefangen. Dabei schwören auch britische „Experten“ jeden Meineid, dass Rauchen keinen Vorteil, sondern nur Nachteile beim Stressabbau mit sich bringt. Und Cameron selbst hat diese Behauptung mit der Präventionspolitik seiner Regierung immer unterstützt.

Ich entziffere die Schrift an der Wand, vor der die Briten, aber auch wir nun stehen, folgendermaßen: Großen Teilen der Bevölkerung im Vereinigten Königreich wird schon viel zu lange in zu vielen Bereichen ständig vermittelt: Dich lassen wir nicht gelten, du genügst unseren Ansprüchen nicht. Rauche nicht! Du bist zu fett! Fleisch essen ist unanständig! Beweg dich gefälligst! Aber auch: Tu endlich, was wir dir sagen, oder du bist ein volkswirtschaftlicher Störfall. Ein unnötiger Kostenfaktor, der anderen auf der Tasche liegt. Ein Betriebsschädling. Geschieht dir ganz recht, wenn du deine Arbeit, deine Wohnung verlierst. Und sei, verdammt nochmal, gefälligst tolerant.

Toleranz, andere Menschen mit anderen Überzeugungen und Gewohnheiten ebenso wie sich selbst und seine eigenen Überzeugungen und Gewohnheiten gelten zu lassen, ist ein hohes Gut. Aber sie gedeiht nicht unter Menschen, die man tagtäglich spüren lässt, dass man ihre Überzeugungen und Gewohnheiten eben nicht gelten lässt, sondern ihnen sogar bei jeder Gelegenheit öffentlich verkündet, man werde sie so lange herumschubsen, bis sie endlich ihre eigenen Überzeugungen und Gewohnheiten gegen andere ausgetauscht haben.

Es ist eine Binsenweisheit, dass diese Methode in der aufstiegsorientierten Mittelschicht am besten funktioniert – allerdings verlagert sich das „weggenudgte“ Verhalten, näher betrachtet, nur in andere Bereiche, um dort in ganz ähnlicher Form Wiederauferstehung zu feiern. Zeugen Äußerungen wie „Ihr Alten habt uns unsere Zukunft gestohlen“ durch junge britische Brexit-Gegner etwa von Toleranz – oder wenigstens von Einsicht in demokratische Spielregeln? Die von den Lastern des Rauchens, Alkoholkonsums oder Junk-Food Geheilten wiederum entwickeln neue gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen, die von Ritalinmissbrauch über Fehlernährung nach der neuesten Ernährungsmode bis hin zu exzessiv betriebenem Ausdauersport – mit oder ohne die auch im Freizeitsport immer verbreiteteren Dopingmittel – oder Risikosportarten von Freeclimbing bis Paragliding reichen.

Wirtschaftlich schlechter gestellte Schichten geben dem Druck, sich anzupassen, von vornherein seltener nach als andere, und auch das ist nicht überraschend, denn Arme, Ausgegrenzte und Arbeitslose stehen unter erhöhtem Stress und können sich deshalb – das Ehepaar Cameron sollte es spätestens jetzt nachfühlen können! – viel seltener dazu überwinden, ihre tröstlichen kleinen Laster aufzugeben. Die Konditionierung funktioniert zwar auch bei ihnen, aber nur, indem sie ein permanent schlechtes Gewissen erzeugt, während dennoch weiter getan wird, was die Konditionierung einem eigentlich austreiben sollte.

Das Ergebnis einer gesundheits- und sozialpolitischen Doktor-Frankenstein-Strategie, deren Hybris sich nicht weniger als die Abschaffung der menschlichen Schwächen, Laster und Fehlbarkeiten auf die Fahnen geschrieben hat, und die als Mittel Strafe, Ausgrenzung und Verächtlichmachung sowie penetrantes Herumschubsen einsetzt, kann natürlich von vornherein nicht Toleranz sein. In Deutschland heißt dieses Ergebnis Pegida und AfD, in England UKIP, und in Frankreich kann man es als Front Nationale besichtigen.

Ob diese Bewegungen wahre Freunde für diejenigen sind, die ihnen in immer größeren Scharen zulaufen, sei dahingestellt. Aber in jedem Fall sind sie die einzigen, die ihnen in den letzten Jahren ein freundliches Gesicht gezeigt und ihnen vermittelt haben, dass sie normale, anständige Menschen seien, die man so, wie sie sind, gelten lassen kann. Denn im „neoliberalen“, auch dem Nudging zugrunde liegenden Denken in ausschließlich zähl- und messbaren vermeintlichen Vorteilen und Nachteilen interessiert es niemanden, was diese Menschen denken und empfinden, solange man glaubt, das was sie tun, mühelos durch Konditionierungsmaßnahmen nach Pawlowschem Vorbild steuern zu können.

Die Schockbilder auf Zigarettenschachteln sind eine dieser Maßnahmen. Was ich von ihnen halte, können Sie in meinem Brief an die Abgeordneten des Europaparlaments vom Herbst 2013 nachlesen.

Das Brexit-Menetekel sollte der Anfang vom Ende der Illusion dieses Konzepts sein. Das Vereinigte Königreich wird, auch als Ergebnis eines spektakulär fehlgeschlagenen Experiments im „Social Engineering“, wenn nicht noch ein Wunder geschieht, in der heutigen Form wahrscheinlich bald nicht mehr existieren, denn Schottland droht mit dem Austritt, und auch in Nordirland werden Stimmen laut, die eine Wiedervereinigung mit Irland fordern. Aber auch die Europäische Union ist nicht nur um ein Mitgliedsland ärmer geworden, sondern in Gefahr, ganz zu zerfallen.

Mene, das ist, Gott hat dein Königtum gezählt und beendet. Tekel, das ist, man hat dich auf der Waage gewogen und zu leicht befunden. Peres, das ist, dein Reich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben.

Sowohl auf EU- wie auch auf Mitgliedsstaatenebene spielen dabei dieselben Bevölkerungsschichten, die niemand in den letzten Jahren für wichtig genug gehalten hat, um ihre Anliegen ernst zu nehmen, die Schlüsselrolle. Von ihnen wird die EU gezählt und gewogen werden, und vom Ergebnis hängt ihr und unser weiteres Schicksal ab.

Die Schrift an der Wand ist im Grunde leicht zu entziffern. Es fehlt nur noch ein Prophet, der dort Gehör findet, wo die Entscheidungen getroffen werden.

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2 Antworten zu Das Brexit-Menetekel

  1. Ben Palmer schreibt:

    Ein schöner Artikel, der einen weiten Bogen schlägt und damit aufzeigt, dass Bevormundung und Nudging ihre Grenzen haben und früher oder später Widerstände wecken.
    Cameron hatte sich ja lange geziert, eine Abstimmung anzuberaumen. Er wollte erst mit der EU neue Bedingungen aushandeln, um dann mit den entsprechenden Zusagen der EU vor das Volk zu treten, in der Gewissheit dass sich dann das Volk für den weiteren Verbleib entscheiden würde.. Entweder hatte er das Vorhaben vergessen oder aber er fand bei der EU keine Gnade. So hat nicht nur Cameron seine Chancen verspielt,auch die EU hat auf „abwarten und Tee trinken“ gesetzt und sich mit dem heissen Tee den Mund verbrüht.
    In Frankreich wird ein ähnliches Spiel gespielt. Statt sein Regierungsprogramm zu überdenken und dem Volk entgegen zu kommen, verunglimpft die Regierung den Front National und seine Mitglieder, sie wirft mit Rassismusanschuldignungen um sich in der Hoffnung, dass sie damit das Volk davon abhalten, sich nach neuen Leitfiguren uzusehen. Unter keinen Umständen ist de Regierung gewillt, den Fehler bei sich selbst zu sehen.

  2. Dirk Neumann schreibt:

    Eigentlich erschreckend, dass der Artikel heute im Januar 2018 noch genauso aktuell ist. Mit einem Unterschied: Jetzt sitzt auch in Deutschland eine Partei im Parlament, die wohl Ausdruck des Menetekels ist. Und die Reaktion der Schubser? Panik, so wie bei Belsazar Gefolgschaft, die ihn ja in der nächsten Nacht erschlugen.

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